Wie würde der MTV 1846 den Abgang einiger Spieler verkraften, die in der Vorsaison zu den Stützen des Teams gezählt hatten, fragten sich die Basketballfreunde in Gießen und Umgebung vor Beginn der Spielzeit 1974/1975. Schon während der vorangegangenen Saison hatte Karl Ampt den Männerturnern den Rücken gekehrt und sich dem 1. FC Bamberg angeschlossen. In Person des über zwei Meter großen Centers Tony Koski, dem erfolgreichsten Punktesammler aus der Vorsaison, stand ein weiterer wichtiger Spieler nicht mehr zur Verfügung - Koski hatte das Angebot eines französischen Profiklubs angenommen. Mit Jochen Decker und Klaus Jungnickel hatten sich weitere Säulen der MTV-Mannschaft von der Gießener Bundesligabühne verabschiedet. Zum Pech der 1846er fiel mit Roland Peters dann auch noch der einzige im Kader verbliebene Nationalspieler wegen einer Knochenerkrankung an der Hand für die gesamte Bundesliga-Hauptrunde
aus.
Die Besetzung des Trainerpostens gestaltete sich als äußerst schwierig. Nachdem Verhandlungen mit dem ehemaligen holländischen Nationaltrainer Steuer gescheitert waren und anschließend auch die Verpflichtung des aus Rumänien stammenden Dragos Nosievici nicht zustande gekommen war, übernahm "Didi" Kienast noch einmal imterimsweise die Betreuung und Spielvorbereitung des MTV-Teams, ehe Klaus Jungnickel sich vor dem 4. Spieltag bereit erklärte,
das Traineramt zu übernehmen.
Da die Gießener mit dem unter anderem durch Tony Koski empfohlenen US-Amerikaner Dennis Curran nur einen Neuzugang zu verzeichnen hatten, starteten sie wahrlich nicht großen Hoffnungen in
die neue Saison.
Dass der MTV nach Abschluss der 14 Meisterschaftsspieltage mit 22:6 Punkten erneut vor dem USC Heidelberg (21:7), dem USC München und dem 1. FC Bamberg (beide 19:9) auf dem ersten Tabellenplatz der Süd-Gruppe landete und somit seine neunte Südmeisterschaft gewann, kam schon einer kleinen Sensation gleich. Die junge Gießener Mannschaft um die Anführer Curran (27 Punkte pro Spiel!) und Hansi Heß (17 Punkte pS) hatte ohne Ausnahme mit großer Begeisterung und Hingabe gekämpft und einmal mehr gezeigt,
dass man auch ohne Zwei-Meter-Riesen in der Bundesligaspitze mitmischen kann.
Ganz Basketball-Gießen war stolz auf diese Mannschaft, die im Süden so frisch und beherzt aufgetrumpft hatte. In Gießen brach in jenen Tagen wieder jene Krankheit aus, von der seit Mitte der 60er Jahre tausende Bürger der Stadt - immer im ersten Jahresquartal - befallen worden waren: Das Endrundenfieber! Das grassierte erst recht, nachdem der MTV mit einer Ausbeute von 10:2 Punkten als Gruppenerster in das Halbfinale eingezogen war, wo der MTV Wolfenbüttel
auf die Mittelhessen wartete.
2800 Zuschauer sahen im Hinspiel in der Osthalle einen großen Kampf, der erst mit der Schluss-Sirene durch einen Korberfolg von Dennis Curran zum 81:80 zugunsten der Gießener entschieden wurde. Würde dieses schmale Polster für das Rückspiel reichen? Ja, es reichte. Wenn auch wieder mal nur ganz, ganz knapp. Vor 1300 Zuschauern in der restlos überfüllten Doppelturnhalle in Wolfenbüttel retteten sich die überglücklichen MTVler um Hess (22 Punkte), Curran (20) und den inzwischen wiedergenesenen Peters (13) dank eines 78:78-Unentschiedens (seinerzeit gab es noch keine Verlängerung)
in das Endspiel.
Dort kam es zum Duell mit dem alten Rivalen aus Heidelberg. Im Hinspiel brach der USC unter den Anfeuerungsrufen von 4000 (!) Osthallenbesuchern und dem Angriffswirbel der Curran und Co. zusammen. Nach den 40 Minuten hieß es 84:69 für den MTV. Doch natürlich wurde auch das Rückspiel in Heidelberg wieder zu einem Krimi. Vor 2000 Zuschauern spielte sich der USC in einen Rausch, den man so seit Jahren nicht mehr bei den Heidelbergern gesehen hatte. Die Halle stand Kopf, als der USC in der 10. Minute mit 20:8 in Führung lag und den Rückstand aus dem Hinspiel schon beim 44:26 in der 22. Minute mehr als wettgemacht hatte. Doch der MTV fightete zurück. 35 Sekunden vor Schluss verkürzte Curran auf 54:67. Nachdem Kaltschmitt und Keller in der Folge zwei gute Gelegenheiten für den USC versiebt hatten und Curran fünf Sekunden vor dem Ende den 56:67-Endstand herstellte, stand der Gewinn der 4. Deutschen
Meisterschaft fest.
Eine knappe Stunde nach Spielschluss bahnte sich eine hupende Autokarawane den Weg heimwärts nach Gießen. Bei der Ankunft in der Jahnhalle am Heegstrauchweg brach ein nicht endenwollender Jubelsturm aus. In der überfüllten Halle zitterten die Gläser auf den Tischen, als der neue Basketballmeister lautstark gefeiert wurde. Als die letzten Besucher die Jahnstuben verließen, war es längst heller Tag und die ersten Busse
fuhren bereits durch den kühlen Sonntagmorgen.
(Text teilweise entnommen aus dem Buch "Die MTV-Story" von G. Raschke)
Bundesliga / Gruppe Süd (acht Teams, die besten Vier erreichten die Endrunde; Heimspielort: Sporthalle Ost):
TSV 1860 München - MTV 1846 Gießen 71:88
(36:42)
MTV 1846 Gießen - TG Hanau 100:79 (50:38)
MTV 1846 Gießen - USC Mainz 87:64 (43:40)
ADB Koblenz - MTV 1846 Gießen 76:77 (37:46)
USC Heidelberg - MTV 1846 Gießen 77:75 (41:40)
MTV 1846 Gießen - USC München 92:85 (52:44)
1. FC Bamberg - MTV 1846 Gießen 98:94 (53:50)
MTV 1846 Gießen - TSV 1860 München 103:54 (51:31), Zuschauer: 500
TG Hanau - MTV 1846 Gießen 95:109 (45:56)
USC Mainz - MTV 1846 Gießen 87:98 (39:47)
MTV 1846 Gießen - ADB Koblenz 100:96 (52:51)
MTV 1846 Gießen - USC Heidelberg 98:78 (46:39), Zuschauer: 2.300
USC München - MTV 1846 Gießen 105:94 (56:49)
MTV 1846 Gießen - 1. FC Bamberg 105:76 (48:36)
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Abschlusstabelle (die ersten Vier erreichten die Endrunde):
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1 MTV 1846 Gießen 22:6 Punkte + 175 Körbe
2 USC Heidelberg 21:7 Punkte + 226 Körbe
3 USC München 19:9 Punkte + 107 Körbe
4 1. FC Bamberg 19:9 Punkte + 67 Körbe
5 ADB Koblenz 15:13 Punkte + 11 Körbe
6 USC Mainz 6:22 Punkte - 159 Körbe
7 TG Hanau 6:22 Punkte - 200 Körbe
8 TSV 1860 München 4:24 Punkte - 227 Körbe
Endrunde / Gruppe 1 (die besten Zwei erreichten das Halbfinale):
Ruwa Essen-Dellwig
- MTV 1846 Gießen 94:100 (50:55)
MTV 1846 Gießen - 1. FC Bamberg 103:85 (50:42), Zuschauer: 1.800
MTV 1846 Gießen - TuS 04 Leverkusen 94:95 (50:52), Zuschauer: 3.000
TuS 04 Leverkusen - MTV 1846 Gießen 70:77 (36:44)
1. FC Bamberg - MTV 1846 Gießen 88:93 (33:37)
MTV 1846 Gießen - Ruwa Essen-Dellwig 119:77 (54:38)
Endstand: 1. Gießen 10:2, 2. Leverkusen 10:2 (Gießen aufgrund des besseren Direktvergleiches
auf Platz eins)
Halbfinale (Hin- und Rückspiel):
MTV 1846 Gießen - MTV Wolfenbüttel
81:80 (42:44), Zuschauer: 2.800
MTV Wolfenbüttel - MTV 1846 Gießen 78:78 (41:38)
Finale (Hin- und Rückspiel):
MTV
1846 Gießen - USC Heidelberg 84:69 (44:33), Zuschauer: 3.500
USC Heidelberg - MTV 1846 Gießen 67:56 (36:26)
Deutscher Meister 1974/1975: MTV
1846 Gießen
Bundesliga-Korbschützenliste MTV 1846 Gießen (Saison 74/75):
1 Dennis Curran 647 Punkte
(24 Spiele; 26,96 Punkte pro Spiel)
2 Hans Heß 419 Punkte
(24 Spiele; 17,46 Punkte pro Spiel)
3 Robert Minor 268 Punkte
(24 Spiele; 11,17 Punkte pro Spiel)
4 Ulrich Strack 188 Punkte
(23 Spiele; 11,53 Punkte pro Spiel)
5 Dieter Strack 182 Punkte
(23 Spiele; 8,24 Punkte pro Spiel)
6 Michael Breitbach 180 Punkte
(23 Spiele; 9,431 Punkte pro Spiel)
7 Roland Peters 88 Punkte
(11 Spiele; 6,39 Punkte pro Spiel)
8 Henner Weigand 73 Punkte
(24 Spiele; 5,58 Punkte pro Spiel)
9 Eberhard Bauernfeind 69 Punkte
(24 Spiele; 5,88 Punkte pro Spiel)
10 Jörg Bernath 50 Punkte
(20 Spiele; 4,05 Punkte pro Spiel)
11 Thomas Scheld 41 Punkte
(11 Spiele; 4,63 Punkte pro Spiel)
Deutscher Pokalwettbewerb:
2. Runde:
MTV 1846 Gießen - ADB Koblenz 87:86 (53:42), Zuschauer: 500
Viertelfinale:
Spvgg Ludwigsburg - MTV 1846 Gießen 66:80 (31:42)
Halbfinale:
SSV Hagen - MTV 1846 Gießen 85:84 (38:32)
Deutscher Pokalsieger 1974/1975:
SSV Hagen