Zu Beginn des neuen Spieljahres 1969/1970 wurde in Gießen die neu errichtete Sporthalle Ost mit einem Freundschaftsspiel gegen die israelische Spitzenmannschaft
Hapoel Holon Tel Aviv eingeweiht.
Um weiterhin in der im Zuge der letzten Jahre stärker gewordenen deutschen Spitze mitmischen zu können, entschieden sich die MTV-Verantwortlichen dazu, ab dieser Saison vier Trainingseinheiten pro Woche durchzuführen. Bis dato hatten sich die Spieler des Bundesligateams nur zweimal pro Woche zum Training getroffen. Nach "Pollo" Urmitzer, der schon am Ende der vorangegangenen Saison nach Gießen gewechselt war, hatte nun auch "Dschang" Jungnickel wieder
zum MTV zurückgefunden.
Mit Beginn dieser Spielzeit wurde ein neuer Modus eingeführt: Die ersten vier Teams der Nord- und Südgruppe qualifizierten sich für die Endrunde, die in zwei Gruppen zu je vier Mannschaften und im Jeder-gegen-jeden-Verfahren mit Hin- und Rückspiel ausgetragen wurde. Die Spitzenreiter der beiden Endrundengruppen erreichten das
Finale um die Deutsche Meisterschaft.
Obwohl die Gießener nach dem Verlust von "Bill" Provinse über keinen US-Amerikaner in ihrem Team verfügten, wurde schnell deutlich, dass sie auch in dieser Saison eine gute Rolle in Deutschlands höchster Spielklasse spielen können. Die gute Nachwuchsarbeit machte sich langsam bezahlt. Die aus einer guten Mischung von Routine und jugendlichem Ehrgeiz zusammengesetzte MTV-Truppe
war von Position eins bis zwölf so ausgeglichen besetzt wie noch nie zuvor.
Nur zwei Niederlagen (bei GW Frankfurt und 1860 München) leisteten sich die Gießener in der Hauptrunde. Mit dem 93:76-Heimerfolg im Rückspiel gegen die Grün-Weißen aus Frankfurt, die vor der Saison mit dem Stadtrivalen Eintracht fusioniert hatten, wurde der abermalige Endrundeneinzug bereits am fünftletzten Spieltag unter Dach und Fach gebracht. Die mittlerweile 5. Südmeisterschaft machten die 46er am vorletzten Spieltag bei den Münchener Bayern perfekt. Ohne Holger Geschwindner und einen angeschlagenen "Pollo" Urmitzer (2 Punkte), der sich im Training den Fuß vertreten hatte und nur sporadisch eingesetzt werden konnte, und mit einem früh foulbelasteten Kapitän Bernd Röder (vier Fouls nach acht Minuten) drehten die Gießener ein bereits verloren geglaubtes Spiel in der Endphase noch um. Nach dem 68:79-Rückstand in der 36. Minute wirkte sich die hervorragende Kondition der MTV-Spieler aus. Mit einer Pressdeckung über das ganze Feld konnte man sich doch noch den 84:82-Erfolg (Jungnickel
23, Decker 17, Dort 16, Ampt 12) sichern.
Am letzten Spieltag verpasste der vor der Saison nach den Zugängen von Nationalspieler
Uhlig, Wohlers und Dieter allgemein als Geheimfavorit gehandelte USC München endgültig die Qualifikation für die Endrunde. Ein Sieg in Frankfurt wäre vonnöten gewesen. Stattdessen musste sich der USC nach einer 59:43-Pausenführung am Ende mit
92:95 geschlagen geben.
Die Spiele der Saison:
In den sechs Endrundenspielen leistete sich der MTV nur eine Niederlage in Mainz (84:87). Mit Decker, Röder, Geschwindner und Urmitzer mussten in dieser Partie gleich vier MTV-Spieler mit einem überzogenen Foulkonto vorzeitig auf der Bank Platz nehmen. Gegen den Mainzer US-Spieler Shannon (41 Punkte) fanden die Mittelhessen in der Defensive nie ein geeignetes Gegenmittel. Im Rückspiel kamen die Gießener vor 2.500 Zuschauern in der Sporthalle Ost dann aber zu einem sicheren 90:75-Erfolg. Beim entscheidenden letzten Endrundenspiel in Osnabrück, das gewonnen werden musste, um in das Finale einziehen zu können, blieben die Gießener cool, profitierten aber auch davon, dass der tschechische Spitzenspieler des VfL, Karel Baroch, bereits nach sechs Minuten mit einer Bänderdehnung vom Feld musste. Letztlich entschied der MTV die Partie in einer aufgeheizten Atmosphäre mit 88:83 zu seinen Gunsten. Jungnickel (21), Decker (20), Ampt
(12) und Geschwindner (10) punkteten bei den Lahnstädtern zweistellig.
Im Finale traf man auf einen Gegner, der in den folgenden Jahren und Jahrzehnten zu einem Dauerkonkurrenten werden sollte: Die Mannschaft des TuS 04 Leverkusen, die genau wie das Gießener Team einen modernen Basketballstil praktizierte, der von Härte, Kampf und Schnelligkeit gekennzeichnet war. Die Rheinländer, schon damals mit der Chemiefirma Bayer als Geldgeber im Rücken, wurden nach einem beeindruckenden Siegeszug durch die Bundesliga-Nordgruppe und die Endrundengruppe B (24 Siege in Folge, mit dem 114:56-Sieg beim ASV Köln gelang dem TuS u.a. der bis dato höchste Auswärtserfolg in der Bundesligageschichte) allgemein
als Favorit gehandelt.
Etwas unglücklich war die Tatsache, dass sich der DBB dazu entschieden hatte, das Endspiel in der Sporthalle in Dillingen an der Saar austragen zu lassen, obwohl diese nur ein Fassungsvermögen von 2.000 Zuschauern hatte. Die 500 den Gießenern zustehenden Karten waren innerhalb von zwei Stunden vergriffen. Das Finale wurde dann zu einer äußerst spannenden Angelegenheit: Der Außenseiter von der Lahn stand kurz vor dem Gewinn seines 4. Meistertitels, führte mit 51:37 (25.), 59:50 (32.) und 69:65 (32.), konnte diesen Vorsprung aber nicht halten. 30 Sekunden vor dem Ende wurde "Pollo" Urmitzer zur tragischen Figur, als er beim Stande von 74:73 für Leverkusen zwei Freiwürfe vergab. Leverkusen
sicherte sich mit dem 76:73-Erfolg die 1. Deutsche Meisterschaft.
Durch den Pokalsieg in der vorangegangenen Saison war der MTV 1846 auch im Europapokal der Pokalsieger vertreten. In der 1. Runde traf man auf den favorisierten zehnfachen rumänischen Meister Steaua Bukarest, der acht Akteure in seinen Reihen hatte, die zwischen 5 und 192 Länderspiele aufweisen konnten. 1961 hatte Steaua im Europacup der Landesmeister die Runde der letzten Vier erreicht, im Vorjahr war man im selben Wettbewerb in der dritten Runde an Fides Neapel gescheitert.
Beim Hinspiel am 03.12.1969 in Gießen konnte Steaua seiner Favoritenrolle lange Zeit gerecht werden. 65:77 lag der MTV vor rund 1.800 Besuchern nach rund 32 absolvierten Minuten im Hintertreffen, ehe
eine
"phantastische kämpferische Leistung" (Gießener Allgemeine Zeitung) des MTV für die kaum erwartete Wende sorgte. Elf Sekunden vor dem Ende schloss Urmitzer einen Steilangriff zum vielumjubelten 85:84-Erfolg
ab.
Unmittelbar nach dem Spiel setzte sich der 97-fache rumänische Nationalspieler Ekkehardt Jekeli vom Steaua-Team ab. Im Rückspiel wurde die Gießener Mannschaft nichtsdestotrotz sehr herzlich empfangen. Und nach einem 35:50-Rückstand zur Pause hätten die Gießener in der zweiten Hälfte sogar beinahe für eine Sensation gesorgt. Mit ihren Schnelldurchbrüchen verkürzten sie bis zur 36. Minute auf 72:75, ehe die konditionellen Reserven verbraucht waren und Steaua doch noch zu einem
klaren 98:81-Erfolg kam, der in der Addition beider Spiele das Weiterkommen bedeutete.
Im deutschen Pokalwettbewerb erreichten die Männerturner mit Jekeli, der sich inzwischen dem MTV-Team angeschlossen hatte und in den vier Pokalpartien für den MTV im Schnitt 25 Punkte pro Spiel markierte, das Halbfinale, wo man erneut gegen Leverkusen antreten musste. Die von zwei starken Defensivreihen geprägten Partie endete mit einem knappen 57:53-Erfolg der Farbenstädter, aber auch beinahe mit einem Skandal, wie wir dem folgenden Spielbericht der Gießener
Tagespresse entnehmen können:
"Die Begegnung ging dem Ende zu, und nun hieß es bei den 1846ern `Alles oder Nichts´! Man preßte über das ganze Feld, und kam Punkt auf Punkt heran! In der letzten Minute erzwangen die die Gießener drei klare Einwürfe, denn sie preßten die Leverkusener so stark, daß sie es nicht schafften, gemäß der Regeln den Ball innerhalb von zehn Sekunden über die Mittellinie zu spielen! Beide Schiedsrichter drückten aber die Augen zu und ahndeten diesen klaren Regelverstoß nicht! Das Ergebnis hiervon war, der TuS 04 rettete seinen Vorsprung über die Zeit, die Gießener Anhänger und leider auch die Spieler verloren die Nerven, und die Schiedsrichter kamen mit knapper Mühe und Not an einer Abreibung vorbei."
Erneut – zum mittlerweile fünften Mal hintereinander – errangen die A-Junioren des MTV die Deutsche Basketballmeisterschaft. Im Endspiel besiegte man in Kreuznach den Hamburger TB mit 69:50. Dem Team gehörten folgende Spieler an: Peters, Stoll, Lindenstruth, Weigand, Bürschgens, Krausch, Bouffier, Pertek, Decken,
Annies, Hoppe, Lämmler; Trainer: Dietfried Kienast.
Bundesliga Gruppe Süd / Hauptrunde (zehn Teams, die besten Vier erreichten die Endrunde; Heimspielort: Sporthalle Ost):
04.10.69 TV Kirchheimbolanden - MTV
1846 Gießen 50:87 (23:44)
11.10.69 MTV 1846 Gießen - TV 46 Heidelberg 80:58 (44:27)
18.10.69 USC Heidelberg - MTV 1846 Gießen 78:80 (37:49)
25.10.69 MTV 1846 Gießen - USC Mainz 106:74 (58:33)
08.11.69 GW Frankfurt - MTV 1846 Gießen 65:62 (38:31)
15.11.69 MTV 1846 Gießen - USC München 87:81 (37:35)
22.11.69 SC Rei Koblenz - MTV 1846 Gießen 71:95 (28:43)
06.12.69 MTV 1846 Gießen - Bayern München 92:81 (41:37)
13.12.69 TSV 1860 München - MTV 1846 Gießen 87:61 (35:33)
20.12.69 MTV 1846 Gießen - TV Kirchheimbolanden 123:47 (59:25)
10.01.70 MTV 1846 Gießen - USC Heidelberg 88:84 (38:30)
17.01.70 TV 46 Heidelberg - MTV 1846 Gießen 49:104 (21:45)
31.01.70 USC Mainz - MTV 1846 Gießen 90:66 (41:36)
14.02.70 MTV 1846 Gießen - GW Frankfurt 93:76 (42:43)
21.02.70 USC München - MTV 1846 Gießen 67:89 (38:34)
28.02.70 MTV 1846 Gießen - SC Rei Koblenz 112:78 (52:38)
07.03.70 Bayern München - MTV 1846 Gießen 82:84 (45:34)
14.03.70 MTV 1846 Gießen - TSV 1860 München 107:85 (49:45)
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Abschlusstabelle:
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1 MTV 1846 Gießen 32:4 Punkte + 365 Körbe
2 GW Frankfurt 30:6 Punkte + 311 Körbe
3 USC Mainz 28:8 Punkte + 202 Körbe
4 USC Heidelberg 25:11 Punkte + 180 Körbe
5 USC München 24:12 Punkte + 244 Körbe
6 Bayern München 15:21 Punkte + 51Körbe
7 TSV 1860 München 10:26 Punkte - 218 Körbe
8 SC/Rei Koblenz 8:28 Punkte - 229 Körbe
9 TV 46 Heidelberg 8:28 Punkte - 363 Körbe
10 TV Kirchheimbolanden 0:36 Punkte - 532 Körbe
Endrunde / Gruppe A (vier Mannschaften; je zwei aus Nord und Süd; der Erste erreichte das Finale):
21.03.70
ASV Köln - MTV 1846 Gießen 63:87 (25:37)
26.03.70 USC Mainz - MTV 1846 Gießen 87:84 (38:42)
04.04.70 MTV 1846 Gießen - VfL Osnabrück 93:89 (43:38)
11.04.70 MTV 1846 Gießen - ASV Köln 98:74 (47:34)
15.04.70 MTV 1846 Gießen - USC Mainz 90:75 (39:39)
18.04.70 VfL Osnabrück - MTV 1846 Gießen 83:88 (40:46)
Endstand: 1. Gießen 10:2
Finale um die Deutsche Meisterschaft (in Dillingen/Saar, 2.000 Zuschauer):
26.04.70
MTV 1846 - TuS 04 Leverkusen 73:76 (40:35)
Punkteverteilung MTV 1846:
Geschwindner
23, Jungnickel 16, Urmitzer 15, Röder 6, Decker 6,
Ampt
3, Dort 2, Peters 2.
Deutscher Meister 1969/1970:
TuS 04 Leverkusen
Europapokal der Pokalsieger:
1. Runde:
03.12.69 MTV 1846 Gießen - Steaua Bukarest 85:84 (40:40), 1.800 Zuschauer
11.12.69 Steaua Bukarest - MTV 1846 Gießen 98:81 (50:35), 1.500 Zuschauer
Deutscher Pokalwettbewerb:
1.
Runde (22.04.70): BC Darmstadt - MTV 1846 Gießen 88:137 (40:63)
2. Runde (09.05.70): MTV 1846 Gießen - USC München 100:91 (42:48)
Viertelfinale (16.05.70): MTV 1846 Gießen - SSV Hagen 107:100 n.V. (93:93/51:48)
Halbfinale (23.05.70): TuS 04 Leverkusen - MTV 1846 Gießen 57:53 (37:26)
Deutscher Pokalsieger 1969/1970:
TuS 04 Leverkusen