Für alle die wie ich nicht über den link auf die Seite gekommen sind, hier der Text aus diesem Link. Dieser Distel aus dem Forum des 1.FC Köln spricht uns allen aus der Seele glaube ich, danke. Ich habe auf jeden Fall die Hoffnung aufgegeben, lasst uns es machen wie die Musiker auf der Titanic, wir machen "Musik" bis das Schiff gesunken ist.
Nun der Text:
Mitte der Neunziger hatte ich einen Kollegen namens Paul, dessen Firma Ihren Sitz in Sittingbourne, Kent in England hatte. Ein unglaublich hässlicher Flecken, aber genau zwischen Dover und London, und deshalb für einen Spediteur keine schlechte Wahl. Da kommen alle Frächter irgendwann vorbei und so eines Tages auch ich, auf der Suche nach einem Lagerhalter.
Im Laufe der Zeit kamen wir immer besser miteinander ins Geschäft, so dass er mich eines Tages zum Essen einlud, als ich wieder mal zu Besuch war. Es war ein netter Abend bei einem schlechten Italiener mit viel Chianti und Lager. So erfuhr ich dann, dass er aus Ipswich stammte (was in etwa so hässlich ist wie Sittingbourne, nur das Ipswich wenigstens am Meer liegt) und ein eingefleischter Supporter von Ipswich Town war.
Das war natürlich ein toller Aufhänger, wir stellten fest, dass wir beide 1981 beim 0:1 in Müngersdorf waren. Er hatte seit Jahren eine Dauerkarte und fuhr auch zu allen Londoner Matches der Blues. 1981 war sein erstes Auswärtsspiel auf dem Kontinent („My first European away game!“). Es hat natürlich nicht lange gedauert, bis wir die vielen Parallelen unserer Klubs beweint haben, die zahlreichen enttäuschten Hoffnungen und bitteren Pleiten. Der FC stand mal wieder kurz vor dem Abstieg, Ipswich war gerade mal wieder abgestiegen. Wir waren uns einig, dass unsere beiden Vereine auf absehbare Zeit ein ähnliches Dasein fristen würden, wenn sich nichts Grundlegendes ändere.
Und wie das so ist, in gemeinsamer bierseelig-melancholischer Verzweiflung an einem Donnerstag Abend in einem hässlichen Loch von Industriestädtchen vor den Toren Londons: man kriegt die richtig guten Geschichten erzählt.
Paul erzählte mir von den vielen verregneten Nachmittagen an der Portman Road, dem grausamen Gebolze der diversen Söldnertruppen im Trikot seines Klubs, der stummen aber auch zuweilen lauten Verzweiflung der Fans. Der immer wieder kurz aufflackerrnden Hoffnung bei einem Sieg, der elenden Ernüchterung bei der darauf folgenden Niederlage bzw. neuen Niederlagenserie. Ich konnte ihm das alles mehr als gut nachfühlen. Wir gingen von Bier auf Whisky über.
Irgendwann kam er auf ein Heimspiel gegen Charlton Athletic zu sprechen, bei dem ihm zum ersten Mal deutlich wurde, warum und weshalb er sich das alles eigentlich seit Jahren antut. Es war ein Spiel der Hinrunde, es war ein (wie so häufig) verregneter September-Nachmittag und eine grottenschlechte erste Halbzeit beider Teams. Demnach stand es zur Pause auch 0:0 und eigentlich war auch keine wesentliche Besserung in Sicht. Die Stimmung war indifferent trübe, weder in die eine noch die andere Richtung. Beide Teams hatten Aufstiegshoffnungen, spielten aber einen fürchterlichen Kick and Rush. Torchancen gab es so gut wie keine und wenn, dann waren es Zufallsprodukte.
Und dann kam, was kommen musste. Charlton ging nach der Pause wie aus dem nichts mit 3:0 in Führung. Alle Hoffnungen waren am Boden. Dauerregen setzte ein. Es war kalt. Ein gellendes Pfeifkonzert von der Haupttribüne setzte ein. Es war der Moment, in dem man eigentlich nur das Stadion verlassen möchte um in der nächstliegenden Kneipe in kurzer Abfolge soviel geistige Getränke wie nur irgend möglich in sich hineinzuschütten.
Eine Weile passierte gar nichts mehr. Dann schoss Charlton das vierte Tor. Und dann setzte etwas ein, was Paul beim Erzählen die Tränen in die Augen trieb. Reihe um Reihe, Block um Block erhoben sich die Zuschauer und fingen an zu singen.
„And all of a sudden, just out of nowhere, we sang. Everyone, on every seat, there was just no exception. It was incredible, totally unexplainable and overwhelmingly loud…”.
Von der 60. Minute an bis zum Ende des Spiels sangen die Zuschauer in einer todesverachtenden Endlosschleife immer wieder abwechselnd “The Pride of Anglia” und “Ipswich Till I Die”. Ohne jede Ausnahme und unter Missachtung des Spielverlaufs und der erbärmlichen Leistung der eigenen Mannschaft. Das führte soweit, dass der Spielführer von Charlton (die nicht unbedingt eine innige Beziehung zu Ipswich Town pflegen) sich bei einem Eckball zu den Ipswich-Fans umdrehte, einmal kurz salutierte und dann applaudierte. Worauf die Gesänge noch lauter wurden und bis zum Schlusspfiff nicht nachließen. Das Spiel ging 1:5 verloren, was aber niemanden mehr interessierte.
„Ich glaube, was uns allen in diesem Moment klar wurde, war, dass es hier nicht mehr um die Unterstützung der Mannschaft ging. Es ging um uns und unseren Verein. Wir hatten schon zu Beginn der Saison wenig Vertrauen in das, was da nach dem Abstieg übrig geblieben war. Außerdem ging uns das Management mit seiner Schönrederei selbst der beschissensten Spiele auf den Geist. Klar – wir hatten die Hoffnung wieder aufzusteigen, wir wollten das alle, aber wir sahen auch die Realität. Da stand ein Haufen zusammengewürfelter Söldner auf dem Platz, die unsere Trikots spazieren trugen und dabei waren, unsere Ehre zu stehlen. In dem Moment wollten wir allen nur noch zeigen, wer wir sind: das Blut in den Adern des Vereins, den wir lieben. Wir wollten klar machen: WIR sind Ipswich Town und ihr Würstchen könnt uns mit eurer Leistungsverweigerung nicht demütigen. Wir werden noch hier sein und unseren Mann stehen, wenn ihr längst in irgend einer Kneipe eurer verpassten Karriere hinterher weint. Deshalb stand vermutlich auch das ganze Stadion auf und machte mit, nicht nur die Hartgesottenen hinter dem Tor. Das war der totale Zusammenhalt, die vollständige Identifikation und Hingabe. WIR wussten: das ist es wert, deshalb machen wir das und Ipswich Town wird niemals sterben, selbst wenn diese kleinen *A A*er da unten so tun, als wären sie schon tot.“.
Wir saßen noch eine ganze Weile zusammen und gaben uns dieser herrlichen Mischung aus Stolz, Melancholie und Verzweiflung über unser Fan-Schicksal hin. Erst als der Maitre anfing, die Stühle auf die Tische zu stellen, brachen wir auf. Ich brach dann auf dem Weg ins Hotel auch noch einmal kräftig in die Büsche. Am nächsten Tag war ich noch bis Mittags betrunken und danach setzte dann einer der fürchterlichsten Kater ein, an die ich mich erinnern kann. Aber es war die Sache wert. An diesem Abend habe ich einen echten Leidensgenossen erlebt, auf dem Höhepunkt seiner Leidenschaft und Erzählkunst.
„We knew, we had nothing in common with those little ****-heads on the pitch or in management. We were past caring what they said or how bad or well they played. We simply wanted to show our dedication, our uncompromising support for the club and that our story would never end. We wore our colours with a pride they would never live up to.”
Das ist jetzt sieben oder acht Jahre her. Zu Paul habe ich leider keinen Kontakt mehr, erst habe ich die Firma gewechselt, dann er und inzwischen haben wir uns aus den Augen verloren. Wie es manchmal halt so geht im Leben. Und ehrlich gesagt, habe ich eine ganze Weile nicht mehr an diesen bemerkenswerten Abend gedacht.
Bis letzten Samstag, so ungefähr gegen 16.15 Uhr. Als in Müngersdorf die Leute in Scharen zur Halbzeit das Stadion verließen. Da habe ich mir gewünscht, es wäre ein kalter, verregneter Nachmittag an der Portman Road in Ipswich.
Distel